Sonntag,, 22. März
Nun ist also Ausgangssperre, es ist totenstill - gespenstisch. Der Himmel dazu grau, es gab wieder Regen, aber immerhin
morgens um 8 Uhr schon 16°. Der Security-Mann und der Gärtner sind hier zugange wie an jedem Tag, aber sonst: nichts außer
Vogelgezwitscher. Die Katzen schleichen über den Platz - das tun sie immer, aber irgendwie spüren auch sie offensichtlich,
dass etwas nicht stimmt. Ich mache Frühgymnastik
- das erste Mal in meinem Leben betätige ich mich freiwillig
sportlich, ich muss meinen Kreislauf gesund halten: 40 Meter zur Garage, 30 Meter zum Eingangstor, 20 Meter Richtung
Nachbarhäuser, 30 Meter über die ob des vielen Regens teilweise noch grüne Wiese zur Mauer an der Straße. Mehr Auslauf ist
nicht - aber immerhin. Der Laden gegenüber hat geöffnet und frisches Brot zum Frühstück, die kommunale Müllabfuhr war da -
die Versorgung läuft.
Es gab in Tunsien gestern 48 Fälle, einen im Distrikt
Nabeul, und einen Todesfall, ganz im Süden
des Landes, eine schon infiziert aus der Türkei heimgekommene 80-jährige Frau.
Heute Morgen wird gemeldet, die Ferieninsel Djerba
sei besonders betroffen, die Kontrollen bei der Einreise der Touristen hätten nicht den erwünschten Erfolg gebracht. Der
Ministerpräsident hat erklärt, das Land sei nun im Krieg
und wer sich Anordnungen nicht beugt oder z. B. die Situation
zu Finanzspekulationen nutze, werde nach Kriegsrecht verurteilt. Welch Unterschied zu unserer Bundeskanzlerin, die sich
vor wenigen Tagen noch zu Gute hielt, im EU-Rat durchgedrückt zu haben, dass die Grenzen wegen des Warenverkehrs offen
bleiben, weil die Autoindustrie produzieren müsse - was sie ja nun aber doch nicht mehr tut.
Ich habe das Gefühl, in einem Land mit dieser Rigorosität und Polizeipräsenz besser geschützt zu sein als durch die
Teilnahme am Rettungsflug. Eng im Flieger mit erst kürzlich über
Genua (!) Eingereisten sitzen, im verseuchten Zug
von Düsseldorf zu meinem Sohn nach
Köln fahren, dann mit dem Auto ins verseuchte
Stuttgart, um dort unter de-facto-Ausgangssperre
auch nur zuhause zu sitzen? Ist das nur der verzweifelte Versuch, mich zu trösten? Ich glaube nicht.
Den übervollen Tisch mit Lebensmitteln, den die Rettungsfliegenden mir überlassen haben, die ich aber nicht wirklich
haben wollte, hat gestern Morgen in der Frühe der Securité-Mann abgeräumt - samt Tisch; beim Aufwachen sah ich gerade noch
seine letzten Handgriffe. Mein ebenfalls randvoll gewesener Kühlschrank ist leer, nachdem ich alles Matthias überlassen
konnte: so ging nichts verdorben und ich habe eine Last weniger. Den Wein hatte ich mir ja schon gesichert.
Als ich noch im Pfarramt war, habe ich mir immer gewünscht, einmal Langeweile zu haben: nichts zu tun und auch
nicht zu denken, was ich noch tun müsste, sollte, könnte; im Ruhestand, so dachte ich, wird wohl Zeit dafür sein. Daraus
wurde bislang nichts. Jetzt ist der Augenblick da - und währt Stunden - Tage - wohl Wochen. Man kann nicht 10 bis 12 Stunden
am Tag Korrekturlesen, und selbst dann bleiben weitere. Geschlafen habe ich schon genug. Und ich weiß nun aus eigenem
Erleben: Langeweile ist schrecklich.
Da diese Erfahrung nun Millionen, Milliarden Menschen weltweit machen, sorge ich mich, was das für die Zukunft bedeutet:
Aggressivität? Dumme Gedanken und Taten? Oder vielleicht doch Besinnung und Umkehr: Corona verstehen als Vorbote dessen,
was es für Folgen haben wird, nicht auf den Klimawandel zu reagieren? In der Krise zu lernen, was an unserer Form des rein
profitorientierten Wirtschaftens falsch ist, welche Werte wirklich wichtig sind? Oder zu erkennen, dass ein Gesundheitswesen
sich nicht an der monetären Lukrativität, sondern der Notwendigkeit von Operationen auszurichten hat? - Erschreckendes
hierzu hat Emanuel Gebauer, früher Bildungsreferent im katholischen Erwachsenenbildungswerk, auf seiner
Facebook-Seite gepostet; zu allem dort
Geschilderten schier unglaulich: dass nun mitten in der größten Krise, die das Gesundheitswesen zu bewältigen hat,
Krankenschwestern auf Kurzareit gesetzt werden.
Der heutige Herrnhuter Losung lautet: Es ist ein Gott im Himmel, der Geheimnisse offenbart.
(Daniel 2, 28) Wir
werden sehen.
Corona-Zahlen aus Italien deuten darauf hin, dass dort der Höhepunkt erreicht ist. Und am 5. April soll auch wieder eine Fähre nach Palermo gehen, zur Mitfahrt ist eine auf Antrag erteilte Erlaubnis der sizilianischen Provinzregierung nötig. So schnell werde ich das nicht machen, mich in verseuchtes Gebiet begeben - aber die Möglichkeit an sich macht Mut: man könnte der Gefangenschaft entkommen.
Am Nachmittag konnte ich dann doch einige Stunden auf der Terrasse mit Internet arbeiten. Und als mich Heißhunger nach Bananen überfiel, ging ich Richtung Stadt und fand welche, die gut aussahen (das ist hier nicht immer so). 5 Stück für etwas über 1 €, das ist für hiesige Verhältnisse teuer. Wenige Menschen, einige Autos, ein sehr netter Verkäufer, der sich mit mir gerne über Deutschland unterhielt - er war schon des öfteren in Düsseldorf, dort lebt sein Bruder. Sonst lebe ich hier billig: die Bananen, dann Trinkjoghurt und Brot 40 Cent, der Campingplatz kostet am Tag gut 3 €, zum Heizen werde ich ½ l Diesel für 30 Cent brauchen, macht insgesamt knapp 5 €. Allerdings: bei Einkünften von 150 € im Monat gehört ein Tunesier aber schon zum Mittelstand; was für mich ein Schnäppchen ist, ist dem Tunesier schon Wohlergehen.
Das Bruttoinlandsprodukt in Tunesien betrug 2018 pro Kopf 3422 $, also 3179 €, liegt damit auf Platz 126 in der Welt,
knapp vor Venezuela und Marokko; kaufkraftbereinigt sind es 12.384 $, also 11505 €, das ist weltweit Platz 102, knapp
hinter Indonesien und Albanien - und immerhin deutlich besser als Hartz IV oder Grundsicherung. Zum Vergleich: die Türkei liegt
kaufkraftbereinigt auf Platz 56 mit 28.044 $ pro Kopf, das sind 26.054 €. Aber: das sind Durchschnittszahlen. Was ich im
Landesinnern in Sbiba gesehen habe, ist
niederschmetternd.
Der Tourismus trug 2009 noch knapp 6% zum BIP bei.
2001 besuchten etwa eine Million Touristen aus Deutschland Tunesien, diese Zahl hat sich dann sehr deutlich reduziert nach
dem Anschlag auf die Synagoge in Djerba 2002
und noch einmal nach der Revolution von 2010, insgesamt um 60 Prozent. Das Tourismusministerium Tunesiens versucht - bislang
ohne großen Erfolg - gegenzusteuern. Das finde ich unverständlich: tolle Strände, freundliche Menschen, aufgeschlossene
Leute, reiche Geschichtszeugnisse, kürzeste Entfernung im Vergleich zu Konkurrenzländern - es spricht in meinen Augen alles
für Tunesien. Die Lebenserwartung beträgt hier 76,0 Jahre - bei der Unabhängigkeit 1956 waren es 38,8% - sie hat
sich also verdoppelt.
Der schwarzafrikanische Securité-Mann, der auch jetzt den ganzen Tag hier ist, mit dem ich aber nicht reden kann, weil
er keine meiner Sprachen versteht, entpuppt sich bei der nonverbalen Kommunikation als humorvoll. Und der Hotelbesitzer
ist freundlich, fragt, ob er helfen kann, Fühlen Sie sich wie Zuhause!
. Tue ich - was die Langeweile aber nicht
mindert.
geschrieben am 22. März 2020