Welt bereisen Das Reiseblog des Ökumenischen Heiligenlexikons

Grauer Corona-Alltag

   J. Schäfer          

Montag, 23. März, bis Donnerstag, 26. März

Gestern abend musste ich nun selbst kochen - das Restaurant ist ja seit heute auch zu. Na ja: die Tomatensoße warm machen, die Bernd, der Chef der Wüstenfahrertruppe von Offroadkangaroo, mir auch überlassen hatten. Die ist gut, versprach er. Stimmt. Beim Verdauungsspaziergang sehe ich Gelblicht auf der Straße und die Neugier drängt mich ans Tor: ein Tankwagen fährt langsam und ein Mann verteilt mit einer Schlauchspritze Unmengen Desinfektionsmittel über Straße, Gehweg und angrenzende Wände.
Deutsche Nahverkehrsmittel haben Desinfektionsmaßnahmen vor einigen Tagen abgelehnt, die normalen Reinigungsintervalle reichten. Kostete ja Geld. Die Stuttgarter Straßenbahnen - ein kommunales Unternehmen mit normalerweise eigentlich guter Leistung - haben weniger Passagiere gezählt und die Zahl der Fahrten eingeschränkt - so sehr, dass die Leute jetzt dichtgedrängter als zuvor stehen. Immerhin: der OB hat eingegriffen.
Die tunesische Regierung weiß, dass das hiesige Gesundheitswesen bei einer Epidemie keine Chance hat, also tut sie alles zur Prävention. Offenbar mit Erfolg: vom ersten festgestellten Fall im Land am 2. März stieg die Zahl der Infizierten nach vierzehn Tagen auf 48; die Vergleichszahlen lauten für Italien 5583 und für Frankreich 2281 für die jeweils dortigen ersten 14 Tage. Dabei geholfen haben hier natürlich auch die sowieso weitgehend geschlossenen Grenzen und der - eigentlich: leider - geringe Tourismus.


Ich habe tief und lange geschlafen - es ist ja jetzt hier so still wie irgendwo in der Einöde - und bin bei Sonnenschein aufgewacht. Das Wetter war am Montag ordentlich, ich konnte einige Stunden auf der Terasse mit Internet arbeiten. Die depressive Verstimmung ist überwunden. Gefreut haben mich natürlich die vielen freundlichen Anteilnahme-Mails, aber um mich muss sich niemand Sorgen machen.
Der Laden gegenüber hatte heute kein frisches Brot, auch zur Mittagszeit noch nicht, deshalb musste ich Richtung Zentrum gehen - es waren um diese Zeit dann relativ viele Autos und Menschen unterwegs - auf Abstand bedacht, aber gelassen. Gute (!) Bananen gab's auch wieder, da wollte ich nicht zögern. Als ich dem schwarzen Securité-Mann eine geschenkt habe, hat der schnell zugegriffen und sich gefreut wie ein Kind - sein Lohn gibt so etwas wohl kaum her. Erfahren habe ich, dass die Sozialhilfe für einkommenslose Familien (!) hierzulande 180 Dinar - knapp 60 € - im Monat beträgt. Sie bekommen jetzt vom Staat 50 Dinar obenauf, um deren Betteleien zu verhindern. Am frühen Nachmittag fuhr dann die Polizei mit lautem Martinshorn durch die Straßen - seitdem ist wieder völlige Ruhe, nach Kriegsrecht abgeurteilt werden will wohl keine(r).

Die deutsche Regierung hat das Notprogramm von 500 Milliarden - seit vorgestern gibt's die Zahl doch tatsächlich auch in der deutschen Presse, eine Woche nach dieser Meldung in tunesischen Zeitungen (ach, was sind wir doch für ein liberales, aufgeklärtes, pressefreies, gut informiertes Land, anderen meilenweit überlegen!) - auf 600 Milliarden aufgestockt. Lars Feld, Vorsitzender der Wirtschaftsweisen, des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Leiter des Walter-Eucken-Institus an der Uni Freiburg - also des Instituts, das der Erfinder des Neoliberalismus gegründet hat - meinte, man könne das 500 Milliarden-Retungspaket machen, aber im Mai müsse Schluss sein mit Einschränkungen und die Wirtschaft wieder unbegrenzt arbeiten können. Wenn die zitierte Spiegel-online-Simulation stimmt, kostet das 500.000 Menschenleben in Deutschland.
Der Wiener Erzbischof und Kardinal Schönborn prognostizierte, die Krise werde zu einem Umdenken führen: Muss man übers Wochenende nach London zum Shoppen fliegen? Muss man Weihnachten auf den Seychellen verbringen? Kreuzfahrten mit 4000 Menschen auf einem Schiff - ist das wirklich ein Lebensmodell?. Natürlich nicht, aber Schönborn scheint Lars Feld nicht zu kennen. Es geht weder ums Einkaufen, noch ums Reisen (wer interessiert sich für das Land, in das er fliegt?), auch nicht um Erlebnisse und schon gar nicht ums Leben - sondern um Statussymbole und sich-über-andere-erheben.

Am Sonntag gab es in Tunesien 75 Corona-Fälle nach 60 am Freitag, davon 37 im Raum Tunis. Der Erkrankte in Nabeul, ein hoher Beamter, der infiziert von einer Dienstreise ins Ausland zurückkam, ist gestorben.

Dass die Muezzine lauter rufen als zuvor, scheint mir wohl nur wegen der sonstigen Ruhe so. Aber sie rufen nicht nur, auch das ganze Gebet wird jetzt alle paar Stunden über die Lautsprecher übertragen, so dass alle mithören oder -beten können. Und der Tonfall scheint mir sehr nachdrücklich und intensiv. Mit ihren Lautsprechern sind die Muslime jetzt deutlich besser aufgestellt als wir Christen mit unseren Glocken. Die Zugriffszahlen aufs Heiligenlexikon insgesamt sind seit der letzten Woche auch um 50% nach oben geschnellt - die Leute haben Zeit und sie suchen Trost. Ungetröstet sind offenbar die vielen Katzen, die es hier auf dem Platz gibt; irgendwas stimmt nicht, merken sie, und sie schlafen oder raufen viel.

Als ich am Dienstag einkaufen war, kam ein Kunde hinzu, erkannte mich - natürlich - sofort als Deutschen und erzählte freudestrahlend auf Deutsch, er habe in Trier gearbeitet. Die Situation sei jetzt zwar becheiden, aber: Wir schaffen das!
Bescheiden ist nun auch wieder das Wetter, grau und kalter Wind. Der Preis für die Wärme gestern war allerdings, dass ich in der Nacht eine Schnake im Auto hatte, und sie war sehr blutrünstig die ganze Nacht über. Es gibt eben keine Freud' ohne Leid. Erst Donnerstag mittag soll das Wetter sich bessern. Meinen Kindern zuhause geht es den Umständen entsprechend gut - Langeweile, abgesagter Urlaub, Suche nach Klopapier, sonst aber alles ok, auch wenn den Nachrichten zufolge Stuttgart ein Viren-Hotspot ist.

Lars Feld wusste schon wieder etwas: auf keinen Fall darf es finanzielle Hilfen der EU für Italien oder Spanien geben! Die Verschuldungsregeln! Sollen sparen! Und reformieren! Egal, ob jetzt 500.000 Tote in Deutschland oder X in Europa - die Ideologie des Neoliberalismus darf nicht aufgeweicht werden! Keinen Millimeter! Ich nenne das Stalinismus. Hilfreich konsequent scheint dagegen das Handeln der Tunesier: heute morgen 85 Fälle, also weiterhin ein langsamer Anstieg. 1000 Fälle, was 50 Intensivbehandlungen bedeute, könnten die Krankenhäuser des Landes bewältigen, so ein hochrangiger Gesundheitsmanager.

Beim Einkaufen am Mittwoch waren Kunden im Laden, die lachten aus vollem Herzen - was bei Muslimen ja eher selten ist -, wobei ich natürlich den Witz nicht verstehen konnte, aber: die Stimmung ist auch am vierten Tag der Ausgangssperre gut. Auch Brot gab es wieder und alles, was es sonst eben hier gibt und man zum Leben braucht, war wie immer verfügbar.

Das Wetter aber ist heute November, trostlos wäre eine Beschönigung: 10° am Mittag, Dauerregen, tiefgrau und windig. Im Foto-Ergebnis erkenne ich: meine Hände haben vor Kälte gezittert, bei allen Aufnahmen.

Auch die Stuttgarter Zeitung hat nun auf der Titelseite über unseren Corona-Artikel berichtet und aufs Heiligenlexikon hingewiesen - nachdem das inzwischen fast alle Zeitungen in Österreich und Deutschland getan hatten, schrieben sie das nun mit Verspätung dort ab. Was ist nur aus dieser einstmals gut gemachten Zeitung geworden!

Eremiten haben ja manchmal Geistesblitze, so kam auch mir einer: Man müsste jegliches Fliegen verbieten. Denn noch einmal können wir uns weltweiten Stillstand nicht leisten, aber die Viren werden auch nach Erfindung eines Impfstoffes gegen das jetzige nicht aufgeben. Ohne Fliegen aber keine weite Verbreitung, weil dann die kontinentalen Reisen wieder so lange dauern, dass Epidemien erkannt und gestoppt, also Pandemien vermieden werden können. Oder, alternativ, marktwirtschaftlich: das jetzt auf 1 Billion angewachsene deutsche Rettungspaket kostet pro Bürger also 12.500 €. Diesen Betrag schlagen wir auf jedes Flugticket auf, sollte das Geld nicht für Viren-Eindämmungsaktionen gebraucht werden, verwenden wir es für Maßnahmen gegen den Klimawandel. Oder: alle Unternehmen berechnen ihre Krisen-Verluste und reichen Schadensersatzklage gegen die Verursachern, die Fluggesellschaften, ein. Dann werden die Tickets noch etwas teurer. Geht natürlich nicht, ich weiß: damals, vor 100 Jahren, ohne Flüge, das war ja kein Leben!
Aber, wer weiß schon: Merkel ist ja jetzt auch Eremitin.

Jemand schrieb mir: Ich stehe mit meiner Meinung, vieles daran (an Corona) sei selbstgemacht, ziemlich alleine: Wir impfen uns und unsere Babies gegen alles dieser Welt, keiner darf mehr eine Kinderkrankheit kriegen, jung, gesund und schön ist die Devise, wenn je nicht, helfen ein Antibiotikum oder andere Arzneien. Unsere Ställe sind voll mit Medikamenten, die Wiesen und Felder voll mit Schädlingsbekämpfungsmitteln. Wenn ich ein Virus wäre, würde ich mich auch ganz schnell aus der Schlinge ziehen und mutieren. Die ersten Ideen, sollte es bald einen Impfstoff und Medikamente geben, hätte ich fürs nächste Jahr schon … Aber laut äußern darf ich das nicht.
Doch, man darf! Nennt sich Demokratie. Der Spott, den man allerdings ertragen muss, nennt sich Expertenmeinung von Wirtschaftsweisen. Und sicher ist die Erklärung auch nicht so einfach und nicht monokausal, aber dass z. B. unsere Tierhaltung und Billig-Fleischproduktion mit dem dabei üblichen Medikamenteneinsatz ein Spiel mit dem Feuer ist, weiß eigentlich jeder und seit längerem. Und Schnupfen wird durch Antibiotika auch nicht besser.
Deutsche Landwirte haben jetzt gedroht, sie würden die Nahrungsmittelproduktion einstellen, falls die Düngemittel-Beschränkungen Geltung bekommen - dann würden die Deutschen hungern und schon sehen … Wer braucht schon trinkbares Wasser?

Der Donnerstag zeigt strahlenden Sonnenschein, dafür stürmischen und eiskalten Wind - 10° um 11 Uhr. Und sogar Regen aus blauem Himmel - Petrus lässt keine Schweinerei aus. Gärtner und Securité-Mann lachen miteinander. Gestern hatte Tunesien 89 Fälle, einen im Distrikt Nabeul. Mein Laden hat geschlossen, also muss ich Richtung Stadt - mich stemmend gegen den Sturm; es ist wenig los - und es gibt frische Bananen.

Der Klopapierverbrauch in Deutschland war auf das Siebenfache gestiegen - die Deutschen scheißen sich die Angst aus dem Leib. In einer Stadt war die Kanalisation verstopft, weil die nichthamsternden Leute alles Mögliche als Ersatz benutzen, in anderen Kommunen wird deshalb gewarnt. Die Corona-Angst treibt Blüten, aber man kann auch an Typhus sterben.

Italien hat Tunesien 50 Millionen € Entwicklungshilfe überwiesen, damit hier Sozialprogramme für die Beschäftigungslosen aufgelegt werden können. Der IWF - also: die Welt - hat kürzlich 40 Mio gegeben.
Italien hatte vor einigen Wochen die EU um Hilfe bei Medikamenten und Schutzkleidung gebeten. Die - nicht nur - deutsche Antwort: Mir gebbet nix! Deutschland hatte schon frühzeitig ein völliges Ausfuhrverbot für solche Artikel erlassen. Offene Grenzen dienen Deutschland zum Export, ansonsten sind sie unüberwindlich! Ex-Innenminister Salvini, der Neofaschist in Italien, hat das natürlich sofort kommentiert: er habe es schon immer gewusst. Russland hat deshalb jetzt Medikamente, Schutzkleidung und 300 Ärzte nach Italien geflogen, auch China sandte Hilfe. Die deutsche Presse kommentierte: das sei höchst gefährlich, wenn diese - nein, sie haben nicht geschrieben: Feinde, aber genau das gemeint - jetzt mit ihren Militärflugzeugen in NATO-Gebiet eindringen dürfen.

geschrieben am 23., 24, 25. und 26. März 2020



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