Welt bereisen Das Reiseblog des Ökumenischen Heiligenlexikons

Rumänien 1993

   J. Schäfer          

Im September 1991 kam ich in meine neue Gemeinde nach Stuttgart-Heumaden. Dort stellte sich schnell heraus, dass fast 1/6 der Gemeindeglieder Aussiedler aus Siebenbürgen waren, die in der großen Ausreisewelle um 1980 in den Westen gekommen waren. Deren in vielen Erzählungen als wunderschön gepriesene alte Heimat wollten wir 1993 kennenlernen und anschließend über die Klöster im Süden Bulgariens nach Griechenland zum Erholungsurlaub reisen. Es sollte eine Fahrt mit mancher Überraschung werden ...


Anreise durch die ungarische Puszta

Anfang 1993 war der Jugoslawienkrieg wieder offen entflammt. Im April griffen kroatische Streitkräfte in Bosnien an, im Mai startete die kroatische Armee ihre Offensive gegen die serbisch kontrollierten Gebiete in Westslawonien, serbische Einheiten beschossen daraufhin die kroatische Hauptstadt Zagreb. Eine Anreise auf dem legendären Autoput war unmöglich. Das galt aber nicht nur für uns, sondern auch für all die vielen Türken, die zum Heimaturlaub unterwegs waren. Schiffsverbindungen aus Italien waren damals noch rar, also mussten alle über Ungarn und Rumänien fahren. An der Grenze von Gyula in Ungarn nach Rumänien gab es deshalb wie an allen möglichen Übergängen Stau: 24 volle Stunden standen wir dort in der Schlange bis zum rumänischen Grenzbeamten.

Die Ungarn hatten sich auf diese Situation einigermaßen eingestellt: das Rote Kreuz verteilte Wasserflaschen, an einigen Stellen waren Dixi-Klos aufgestellt und viele Ungarn nutzten die Notlage und errichteten Verkaufsstände. Grenze bei Gyula.

Schließlich doch in Rumänien angekommen übernachteten wir in Socodor und erlebten das Leben auf dem Land.

Das Frühstück war idyllisch - die Versorgung miserabel. Trotz unserem schönen Westgeld gab es fast nicht zu kaufen: das Brot hatte Schimmelflecken, die Marmelade ebenso, die Dose mit Fisch in Tomatensoße war eine Dose mit Gräten in rotem Wasser. Hoffentlich wird sich das in einer Stadt bessern ...

Riesenstall aus der sozialistischen Zeit ...

... und ländliche Idylle wie in alten Zeiten.

Straße in Arad. Die an der Grenze von ungarischer und rumänischer Sprache gelegene Stadt gehört noch nicht zu Siebenbürgen. Im Dezember 1989 versammelten sich in Arad Demonstranten zum Zeichen der Solidarität mit den Demonstranten in Timișoara, am 21. Dezember war Arad die zweite Stadt in Rumänien, in der die kommunistische Führung gestürzt wurde.

Die Stadt erinnert an die alte KuK-Zeit der österreich-ungarischen Monarchie

die serbische Kirche aus dem 17. Jahrhundert

der Fürstenpalast aus dem 17. Jahrhundert

An der Straße von Arad nach Sibiu / Hermannstadt gab es immerhin Obst zu kaufen.

unser Ziel für einige Badetage war ein vom Reiseführer empfohlener Campingplatz am Badesee bei Ocna Sibiului - deutsch: Salzburg. Im Mittelalter wurde hier unter Tage Salz gewonnen, bis der Stollen eingestürzt ist und der See entstand; er ist bis zu 80 m tief, mit aus dem Felsen gespeisten salzhaltigem und sehr warmem Wasser. Das Badevergnügen war für unsere Kinder groß - der Campingplatz katastrophal - Toiletten und Duschen vor Dreck und Gestank völlig unbenutzbar. Also ging's am nächsten Morgen weiter

Im Dorf Ocna Sibiului sehen wir die großen, schönen Bauernhöfe, die die Siebenbürger in den 800 Jahren ihrer Geschichte als Migranten aus Deutschland und Österreich (nicht aus Sachsen!) aufgebaut haben.

Blick auf Sibiu / Hermannstadt mit dem Turm der evangelischen Kirche, die 1483 durch Papst Sixtus IV. - er ließ die Sixtinische Kapelle bauen, herrschte feudal und wirkte in der großen Politik kräftig mit - als Schutzwall aller Christen gegen die Osmanen gestiftet wurde. Sie ist heute Sitz des evangelischen Bischofs in Rumänien.
Direkt neben der Kirche ist das beste Hotel am Platz, der Deutsche Kaiser. Dort wollten wir endlich etwas ordentliches zu Essen bekommen. Beste Ausstattung, alter Wohlstand, eine Menge livrierte Kellner, eine Volkstanzgruppe zur Unterhaltung der Gäste: unser Vorhaben schien zu gelingen. Und wir waren die einzigen Gäste. Aus der dicken mehrsprachigen Speisekarte wählten wir also mit Hunger und großer Vorfreude auf Gaumenfreuden. Das erste gewählte Gericht war leider ausgegangen. Das zweite derzeit nicht verfügbar. Das dritte momentan nicht lieferbar. Das vierte umständehalber im Augenblick nicht erhältlich. Also gaben wir die Karten zurück und baten, der schicke Kellner solle einfach das beste bringen, was er habe (Geld spielte keine Rolle: die Preise waren wirklich angenehm!). Es kam ein Stück zähes, fettiges Fleisch mit intensivstem Schweinegeruch- und geschmack, einige mehlige und fettige Kartoffeln, etwas angefaulter Salat. Ein wahrhaftes Festessen im ersten Haus am Platze!
Unser Entschluss stand fest: hier konnten wir nicht länger bleiben, unsere Kinder mussten etwas Genießbares zum Essen bekommen. Also raus aus Rumänien - kein Aufenthalt in Bulgarien, wo die Versorgungslage wohl ähnlich wäre - auf schnellstem Weg zu einer herzhaften Ernährung - also: nach Edirne in die Türkei, dort, das wussten wir von unserer Türkei-Reise, kann man schlemmen.

Es ist jammerschade: die Landschaft in Transsilvanien - hier eine Kirche in Talmachi südlich Sibiu - ist zauberhaft. Ich lerne die Trauer der Siebenbürger in meiner Heimat zu verstehen: sie haben stolze Bauernhöfe und Städte in großartiger Landschaft aufgegeben ... wie gerne hätten wir das weiter erkundet!

orthodoxe Kirche in Pitești, der Stadt des Dacia und der Chemieindustrie

Nach der Wende wir auch in Rumänien gebaut, das Land soll sich entwickeln. Wir sind zu früh gekommen ...

Durch Bukarest können wir nicht einfach durchbrausen, wenigstens ein paar Blicke auf die Hauptstadt wollen wir uns gönnen. Die Stadt hatte 1990 2 Millionen Einwohner, wurde 1878 Hauptstadt des neuen Königreichs Rumänien. Seit 1965 regierte der in der Revolution von 1989 / 90 gestürzte und getötete Ceauscescu. 1977 wurde die Stadt bei einem Erdbeben völlig zerstört.

Das Athenäum, ein Konzerthaus, 1885 bis 1888 nach Plänen des französischen Architekten Albert Galleron erbaut.

Straßenszene

Die Universitätsbibliothek hat viele Einschüsse aus dem Revolutionsjahr 1989/90, diese werden nun ausgebessert.

bettelne Roma-Frau

Das berühmt-berüchtigte Haus des Volkes, von 1983 bis 1989 nach den Vorstellungen von Nicolae Ceaușescu und Plänen der damals 26-jährigen Architektin Anca Petrescu von 20.000 Arbeitern errichtet. Für den Bauplatz wurden 40.000 Wohnungen, 12 Kirchen und 3 Synagogen abgerissen, ein Kloster verschoben. Mit einer Fläche von 365.000 m² ist es das - nach dem Pentagon in Washington - das zweitgrößte Verwaltungsgebäude der Welt mit mehreren tausend Zimmer und einem Atombunker; der größte Saal ist 16 Meter hoch und hat eine Fläche von 2200 m² - ein halbes Fußballfeld. Die Baukosten werden auf 3,3 Milliarden Euro geschätzt - etwa 40 Prozent des jährlichen Bruttosozialprodukts von Rumänien.

Für den Palast wurde auch eine entsprechende Prachtstraße als Zufahrt gebaut.

Auf der eiligen Weiterfahrt überholen wir einen Hochzeitszug.

Gegen Abend kommen wir an die Grenze nach Bulgarien. Am Grenzübergang Giugio - Ruse reihen wir uns wieder in die Autoschlange ein. Noch wissen wir nicht: hier werden wir 36 Stunden in der Schlange stehen. Zu Essen haben wir fast nichts mehr. Aber in der Schlange stehen ja wieder fast ausschließlich türkische Heimaturlauber - und die versorgen und mit Tee, Wasser und ihren köstlichen türkischen Gebäck-Spezialitäten. Die Reste unseres Schimmel-Brotes und der Wasser-Gräten verschenken wir großzügig an eine Zigeunerfamilie, die auch in der Schlange wartet - und sich darüber ausgelassen freut. Im Unterschied zu den Ungarn gibt es übrigens keinen einzigen Rumänen, der hier eine Geschäftsidee entdeckt ...

... stattdesen werden wie schon immer die Ziegen geweidet.

Zum zweiten Mal geht nun im Donautal die Sonne unter. Myriaden von Mücken werden uns wieder eine unruhige Nacht bescheren.

Dann endlich haben wir die rumänische Grenze hinter uns und überqueren die Donau.

Rose in Bulgarien empfängt uns mit High-Tech.

Nach einer wilden Fahrt durch Bulgarien - den Polizisten, die uns deshalb angehalten haben, erklärte ich, mein Pass und mein Führerschein gehöre der Bundesrepublik Deutschland, wie man deutlich an der Aufschrift lesen könne, deshalb dürfe ich ihn auf keinen Fall aus der Hand geben und wenn sie ihn anfassen wollten, müssten wir gemeinsam zur Botschaft nach Sofia fahren - schließlich hat ihnen meine Argumentation auf Deutsch, Schwäbisch, Englisch, Altgriechsch und Französisch vorgetragene Argumentation nach einer halben Stunde eingeleuchtet und sie ließen uns ohne Buß- oder Bestechungsgeld fahren - erreichen wir Edirne. Auf dem Campingplatz erfreut uns ein Truthahn.

Die große Selimiye-Moschee in Edirne. Sie wurde 1569 bis 1575 erbaut, hat 32 Minarette mit 72m Höhe - die höchsten in der Türkei -, die Kuppel ist 44 m hoch.

Straßenszene

Edirne wurde als Hadrianopolis 125 v.Chr. gegründet von Kaiser Hadrian; Kaiser Konstantin der Große besiegte hier die Römer unter Lucullus, damit war der Weg zu seiner Herrschaft frei. Im Mittelalter war Edirne Standort der Kreuzritter, Kaiser Barbarossa schlug hier sein Winterquartier auf. Dann wurde Edirne Hauptstadt des osmananischen Reiches bis zum Fall von Konstantinopel 1453. 1918, nach dem 1. Weltkrieg, kam die Stadt zu Griechenland, 1922 wurde sie wieder türkisch.

geschrieben am 24. März 2013


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