Welt bereisen Das Reiseblog des Ökumenischen Heiligenlexikons

Im Herzen des wilden Kurdistan

   J. Schäfer          

Mittwoch, 29. Mai

Nach einer geruhsamen Nacht im Villenviertel einer Provinzstadt erreiche ich Diyarbakır, das Herzen des kurdischen Teils der Türkei. Schon mehrfach wurde ich darauf angesprochen, dass der Krieg vorbei sei - gemeint waren die Kämpfe mit den Kurden und der PKK; deren inhaftierter Führer hatte vor einigen Wochen eine Waffenruhe erklärt. Tatsächlich sind die Polizeikontrollen jetzt weniger als vor 23 Jahren. Und während wir damals in Diyarbakır oft von Einheimischen angesprochen wurden, die uns Deutschen stolz erklärten, sie seien Kurden, scheint das kein Thema mehr. Auffällig: hier sind nur selten Frauen mit Kopftuch zu sehen - Kurden sind liberale Muslime.
Wie in allen Städten, so auch hier: rund um die Stadt unzählige nagelneue oder im Bau befindliche Wohnblocks.


Die Stadt war früher von einer Mauer umgeben; rund um die Altstadt sind ein großer Teil der 5,5 km langen Mauer, der 72 Türme wie dieser und die vier Tore erhalten.

Erhalten hat sich auch die Gilde der Schuhputzer, hier im Schatten vor dem Zaun einer Moschee aufgereiht. In der modernen Zeit bieten sie auch Einlegesohlen an.

Am Ende der Stadtmauer und der großen Festung fällt der Hang hinab zum Flusslauf des Tigris, einem der anderen Urströme in 1. Mose 2.

Der Zugang zur Festung aus dem 4. Jahrhundert - 1527 großzügig erweitert auf einen Umfang von 650 Metern - ist geschlossen: Restaurierungsarbeiten, wie könnte es anders sein. Und der Zugang wird aufmerksam bewacht, wie das Foto beweist. Merhaba, ein Lächeln, etwas Gefuchtel mit den Händen - ich bin drin.

In der Festung ist die restaurierte Ruine der ehemaligen St.-Georgs-Kirche.

Und in der Stadt läuft einem das Wasser im Munde zusammen! Mein Darm ist in Ordnung, ich habe wieder Appetit - ich bin angekommen. Würde ich bewusst Träumen, wäre es wahrscheinlich jetzt auf türkisch.

Newroz, das kurdische Neujahrsfest, darf ungehindert als Name für eine Autohandlung dienen.

In der großen Ískender-Paşa-Moschee wird - natürlich geputzt.

1522 bis 1528 wurde die Delliler-Karawanserei mit 72 Zimmern, 17 Kaufläden und Ställen für 800 Kamele errichtet.

Der große gedeckte Käsemarkt. Leider transportiert das Internet noch keine Gerüche.

Die Syrisch-Orthodoxe Kirche, leider öffnet keiner.

Auch in Diyarbakır gibt es - wie in jeder größeren Stadt - mehrere Kirchen, auf die an der Hauptstraße durch Wegweiser aufmerksam gemacht wird.
Ich habe bislang auch geglaubt, was z. B. die EKD behauptet: dass man Kirchen in der Türkei im Prinzip gar nicht und wenn dann nur mit Tricks betreiben dürfe - es stimmt nicht. Mindestens in größeren Städten gibt es Wegweiser, an der Kirche Infotafeln der Stadtverwaltung und Hinweise, dass dort Gottesdienste abgehalten werden. Was wohl nicht geht, ist mit Westgeld zu protzen und mit US-amerikanischen Evangelikalismus zu missionieren - und das, finde ich, ist auch gut so.

Zunächst komme ich zur Scheich-Muthhar-Moschee mit dem Minarett auf vier Säulen aus dem Jahr 1500.

Dann bin ich in der Chaldäischen Kirche Mar Petyun, einer mit der römisch-katholischen Kirche unierten Kirche. Auch in dieser Kirche wird regelmäßig Gottesdienst gefeiert: natürlich sonntags, jeden Donnerstag - dem Tag des Abendmahles - und jeden Freitag, dem Todestag Jesu. Für 40 Cent lässt der Wächter mich eintreten.

Devotionalien kaufe ich keine.

Altar und Hochaltar mit Tabernakel. Dreimal wöchentlich wird Gottesdienst gefeiert.

Wie in jeder richtigen katholischen Kirche darf Antonius nicht fehlen.

Auch einen Turm hat die mitten in der Altstadt gelegene, frisch renovierte Kirche.

Unweit steht die Armenische Kirche mit einem herrlichen Innenhof, auch sie ganz frisch erneuert.

Das Innere der fünfschiffigen Kirche ist sehr groß. Nachdem die ethnische Säuberung und Vertreibung der Armenier aus der Türkei stattgefunden hatte, verfiel um 1925 auch die Kirche zur Ruine. Ab 2009 wurde sie wieder aufgebaut und mit gottesdienstlichem Leben erfüllt.

Den zentralen Altar schmücken Maria und das Jesuskind, die vier Altäre rechts und links die vier Evangelisten.

Eine Ausstellung zeigt die Geschichte der Armenier in Diyarbakır. Diese Stadtansicht aus einem Jahr vor 1918 zeigt neben den Minaretten in der Mitte den größten Turm, den der Armenischen Kirche, außerdem die Türme von vier anderen, darunter der protestantischen Kirche.

Dargestellt wird die bedeutsame Rolle der Armenier im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt; der stellvertretende Bürgermeister und die Hälfte des Stadtrates waren Armenier. Das Bild zeigt den Besuch des Patriarchen aus Ístanbul. Damals lebten 35.000 Armenier in der Stadt, nach Pogrom und Verschleppung waren es nur noch 3000 und es gab keinen Gottesdienst mehr.

Mit strahlenden Augen erzählte der Kirchenwächter, dass sogar der große Turm wieder hergerichtet werden konnte und wieder weithin zu sehen ist.

Ich wollt' nicht, ich wär' ein Huhn, schon gar nicht mitten in der Stadt.

Schließlich besuchte ich die Syrisch-Orthodoxe Kirche mit dem Grab von Jakob von Sarug. Schon im 1. Jahrhundert kamen Christen nach Diyarbakır. Ab 1034 kam der syrische Patriarch von Antiochia aus Melitene, dem heutigen Malatya, an diese Kirche, bis 1933 war sie Sitz des Patriarchen. 2004 / 2005 wurde die Kirche restauriert.

Wie alle anderen ist auch diese Kirche in Betrieb.
Nahebei sehe ich einen Bäcker - Brot wird hier nachmittags frisch gebacken. 30 Cent für den großen Fladen. Ich kaufe eines, aber als er die Ladentür öffnet, sehe ich unter den Tisch, auf dem eben das Brot geknetet wird. Abends schenke ich das Brot den Tieren des Feldes, die wollen auch leben.

> Am Nachmittag fahre ich wieder gen Süden mit dem Ziel Mardin. Auf der Suche nach einem in meiner Straßenkarte - glücklicherweise hatte ich im letzten Moment noch die 23 Jahre alten Landkarten und zwei der Reiseführer über die Türkei eingepackt für die Zeit des Wartens auf die Fähre - verzeichneten Kloster komme ich an der Moschee mit dem Grab irgendeines bedeutenden Muslimen vorbei; auch diese ist mit Stacheldraht gesichert. Das Kloster kennt keiner, auch nicht in der Moschee und bei der Polizeikontrolle an der Hauptstraße; bei der Suche - Ergebnis: da ist kein Kloster - komme ich in dieses schöne, fruchtbare Tal.

Mardin liegt an einem steilen Berg im Süden des Taurus-Gebirges vor der Ebene von Mesopotamien. Gekrönt wird die Stadt von der großen Festung, die angeblich schon 330 v. Chr. vom Sonne anbetenden König Shad Buhari gegründet wurde, sicher auch römische Wurzeln hat. Babylonier, Assyrer, Perser, Griechen, Römer, Araber, Seldschuken, Mongolen, noch einmal die Perser, schließlich die Osmanen besaßen die Stadt. Im Kalten Krieg war die Festung Radaranlage der NATO zum Ausspähen der mit der Sowjetunion verbündeten Syrer - damals war uns die Türkei noch lieb und teuer.

Unweit der Stadt ist das Kloster Deir-az-Zafran - benannt nach dem hier wachsenden Safran - das heute noch von Mönchen der Syrisch-Orthodoxe Kirche bewohnt wird, die dort eine Internatsschule führen. Ursprünglich war an dieser Stelle ein Heiligtum zur Sonnenanbetung - die über der weiten, sich im Süden davon erstreckenden Ebene des Zweistromlandes steht.

In der Nähe übernachte ich unterhalb dieser beeindruckenden Felsen. Nachdem mein Bedürfnis zu Essen zurückgekommen ist - die letzten Tage habe ich fast nur von Brot und in Dörtyol bei der Migros gekaufter polnischer Wurst gelebt - das ist Europa: ich als Deutscher stärke den Umsatz in der Türkei, indem ich der Schweizer Genossenschaft die Wurst polnischer Bauern abkaufe - großartig! Obwohl ich längst in Asien bin.
Also koche ich - bei einem ersten Versuch noch im Paradies habe ich das Meiste den Tieren gefüttert, obwohl mein Kocher gut funktioniert -, natürlich Linsen mit Spätzle und esse freudig alles auf. Nahe des Klosters eine gesegnete Mahlzeit bei gutem Appetit! Und dann gehe ich früh schlafen: abends nach Einbruch der Dunkelheit um 20 Uhr kommen bei Licht gerne auch lästige Insekten, im geschlossenen Auto aber ist es noch zu warm zum Sitzen; in dem Buch Die Vermessung der Welt von Daniel Kleemann über den Mathematiker Gauß und den Weltenentdecker Alexander von Humboldt - schon wieder: dringende Empfehlung! - steht Humboldts Satz, dass auf jeden Menschen 1 Million Insekten kommen was bedeute, dass sie letztendlich die Weltherrschaft antreten werden; mich beherrschen sie also schon. Morgens wird ab 6 Uhr die Sonne wieder zu warm; heute habe ich einen Platz mit Schatten durch den Berg, das gibt dann noch eine Gnadenfrist.

Donnerstag, 30. Mai

Am nächsten Morgen schaue ich mir die Stadt an, dies ist das Rathaus.

Die Stadt ist ausgesprochen schön! Nach Harran und Sanlıurfa hatte ich mir von dieser ebenfalls südlichen Stadt wenig erwartet und bin höchst angenehm überrascht.

Das frisch renovierte Museum (Eintritt: 40 Cent) hat keine Schätze zu bieten, stellt aber auf Schautafeln die Geschichte der Stadt und der Region anschaulich dar. Ganz ausführlich wird über die bedeutsame christliche Geschichte erzählt. Die Felsen boten schon zur Zeit der Verfolgungen im römischen Reich ideale Unterkünfte.
Eine Tafel stellt dar, wie vor 100 Jahren Christen, Muslime und Juden friedlich zusammen lebten und sich gegenseitig achteten, ja sogar die Feste der anderen mitfeierten und Geschenke machten

Die Kunst des Steinmetzes (eine Puppe!) - nett dargestellt.

Eine Tür aus dem 18. Jahrhundert.

Mardin lag an der Silberstraße, die von Aleppo kommend in den Osten führte. 1327 beschrieb ein arabischer Reisender die Stadt als eine der schönsten islamischen Städte; Marco Polo war hier; 1760 erzählte der deutsche Mathematiker, Kartograf und Forschungsreisende Carsten Niebuhr, dass an der damals noch vorhandenen Stadtmauer viele Standbilder christlicher Heiliger angebracht sind.

Kurden werden in ihrer Tracht dargestellt ...

... und auch Kurden, nicht Bergtürken genannt, wie dieses Foto zeigt (vergrößern!).

Ein christlicher Wandbehang aus dem 20. Jahrhudnert.

Der Museumseingang - grünstichig, weil davor ein Glasvorbau ist.
Ich hatte geschrieben, ich könne vollkommen autonom leben. Das stimmt; aber mein Fotoapparat kann es nicht, dessen Batterie braucht zum Aufladen 220 V-Strom; das war mir nie ein Problem, weil er immer einen Urlaub ausgehalten hat; aber jetzt bin ich schon über drei Wochen unterwegs! Also frage ich Museum, auf Englisch, wie soll ich es anders erklären? No. Beharrlich No! Wahrscheinlich haben sie mich eben nicht verstanden, also versuche ich es im Gebäude der Universität neben dem Museum und nehme das Ladegerät zur Veranschaulichung mit. No!, erklärt der Wächter - Wächter gibt's hier immer und überall, Ordnung muss sein und Arbeitsplätze auch -: No! This is University! Also gehe ich in ein Elektrogeschäft, der versteht - auch ohne Türkisch und Englisch - sofort. Als ich nach drei Stunden zum Abholen komme ist er besorgt, weil das Ladelicht noch leuchtet, und als ich bezahlen will, wehrt er ab und deutet an: es kommt von Herzen! Geht doch!

Die Wartezeit verbringe ich mit Blog-Schreiben in einem der Neubaugebiete vor der Altstadt im Schatten eines Hochhauses. Als die Sonne weiterwandert, wechsle ich den Platz, finde Internet - aber nicht zum Hochladen! - und schreibe weiter.
Wenn ich mir die im Bau befindlichen Hochhäuser anschaue, kommt mir plötzlich der Gedanke: wenn jetzt ein Erdbeben kommt, ist mein Schattenplatz der Falsche. So wie bauen wird das ken starkes Beben aushalten - aber glücklicherweise ist die Türkei ja kein Erdbebengebiet . Es kam kein Erdbeben und so schreibe ich am Abend am Abend wieder an meinem Schlafplatz - einem schlechten Platz in einem Dorf vor der Stadt, neben einer Moschee. Etwa um 4 Uhr wird der Muezzin - in kleinen Moscheen ist das meist der Imam selbst - erstmals zum Gebet rufen, er hat eine schreckliche Stimme. Schatten gibt es auch keinen - also eine kurze Nacht - und es ist jetzt schon 23 Uhr! Immerhin habe ich zum Abendessen - jetzt türkische Wurst, ganz passabel - auch Bier gefunden. Dafür hat der Ladenbesitzer mich abgezockt: 2 € die Flasche, soll der Ungläubige doch löhnen: Zigaretten und Bier - geschieht ihm Recht. Ich habe mich nicht gewehrt.
Meint aber nicht, ich schreibe den Blog nur für Euch: ich tue es auch für mich als eine Art Tagebuch und zum Beschriften der Fotos. Aber bitte: warte keiner auf eine Postkarte, ich schreibe mir so schon die Finger wund. Ich habe auch noch gar keine Postkarten gesehen, meines Wissens hat der Prophet davon auch nichts gesagt. Und außerdem sind die ständig überfüllten stickigen Postämter eine Qual!

Der Track:
Mardin

geschrieben am 30. Mai 2013



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