Welt bereisen Das Reiseblog des Ökumenischen Heiligenlexikons

Zeichen einer anderen Welt

   J. Schäfer          

Dienstag, 26. Januar, bis Samstag, 30. Januar

Nahe Larache liegt die Ausgrabungsstätte mit den Ruinen der früheren römischen Stadt Lixus; hier die Reste der Fischfabrik.


Mein nächstes Ziel sind die Ausgrabungen der römischen Siedlung Sala Colonia, bekannt als Grabstätte muslimischer Sultane des 13./14. Jahrhunderts unter dem Namen Chellah am Rand der Hauptstadt Rabat. Sala Colonia markierte und bewachte die Südgrenze der römischen Provinz Mauretania. In der Ummauerung aus dem 14. Jahrhundert empfängt einen das prächtige Eingangstor.

Über 100 Storchen- und Kuhreihernester sind heute auf den Ruinen beheimatet.

das ehemalige Forum, dahinter die Mauer des 13./14. Jahrhunderts

Reste der römischen Thermen …

… und des muslimischen Hammām

Etwas nördlich von Casablanca fahre ich auf den Campingplatz L'Océan bleu bei Mohammedia, direkt am Meer, um hier die nächsten Tage zu verbringen. Es gibt Sitzklo, warme Dusche, Sauberkeit und dazu eine sehr gute Internetverbindung, nur tagsüüber eingeschränkt, weil offenbar die Anbindung im Telfonnetz überlastet ist - wie das in Spanien zumeist ach der Fall ist - und viele, fast nur französische Wohnmobile. Auffallend: die Franzosen sind korrekt, aber nicht herzlich - deutsch ist wieder ein Makel - Danke, Mutti!

Hier bin ich auch gut bewacht vom Haushund. Im Restaurant esse ich Kefta, eine reichliche Portion Fleischbällchen in einem interessant gewürzten Sud aus Tomaten und Eierstich, mit Brot, dazu vom Haus leckere, selbstemachte Bananenmilch.

Der Campingplatz wird eingerahmt von Neubauten: Appartements für die Wohlhabenden direkt am Meer. An den Sicherheitsbestimmungen für Gipser hätte die deutsche Berufsgenossenschaft ihre helle Freude …
Das durchschnittliche BIP pro Einwohner betrug 2013 in Deutschland 45.000 $, in Marokko 3200 $ - das ist 1/14 von Deutschland und auch nur 1/3 von dem in der Türkei. Kaufkraftbereinigt liegt Deutschland bei 40.000 $, Marokko bei 5450 $ - immer noch 1/7,3 von Deutschland und 1/3 von der Türkei. Die Arbeitslosigkeit beträgt offiziell nur 8,7 %, dabei werden aber viele Menschen, die sich irgendwie so durchschlagen, nicht erfasst; hoch ist die Jugendarbeitslosigkeit. Es gibt Sozialversicherungen für Alters-, Hinterbliebenen- und Invalidenrenten sowie Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft sowie Familienbeihilfen, allerdings nur für Arbeitnehmer in Industrie und Handel. Noch sind 30 % der Gesellschaft Analphabeten, vor allem Ältere, heute besteht Schulpflicht für 7- bis 13-jährige, 91 % aller Jungen und 88 % aller Mädchen werden tatsächlich eingeschult. Im Human Development Index der UN, der aus Lebenserwartung, Bildung und Bruttonationaleinkommen (BIP + aus der übrigen Welt empfangene Einkommen) pro Kopf berechnet wird, gehörte Marokko 2013 zu den Ländern mit mittlerer menschlicher Entwicklung, stand auf Platz 129 (von 187) mit deutlicher Tendenz nach oben, kurz hinter z. B. Guatemala und kurz vor Indien - Deutschland lag auf Platz 6
Die Landwirtschaft machte 2003 nur 17 % am BIP aus, aber 43,6 % der Erwerbstätigen waren hier beschäftigt; nach dem Beitritt von Spanien und Portugal zur EU gingen diese Länder, die zuvor Haupt-Exportziel für Landwirtschaftsprodukte waren, verloren, die Abschottung der EU zum Schutz der eigenen Landwirtschaft macht es den Marokkanern schwer, trotz Assoziierungsabkommen. Die Industrie deckt v. a. die Binnennachfrage, weil auch hier die EU-Handelshemmnisse greifen, und erwirtschaftet (einschließlich Handwerk) 30 % des BIP mit nur 19,7 % aller Beschäftigten. Für die Fischereiindustrie gibt es Abkommen mit der EU: sie darf gegen Gebühr mit ihren großen Trawlern fischen, den kleinen Fischern bleibt der klägliche Rest. Ein florierender Zweig ist die Pul-Industrie: gekochte Nordseegarnelen werden zum Pulen nach Marokko gefahren, weil das Pulen dort 20-mal billiger ist als in Deutschland das Maschinenpulen.
Jean Ziegler, ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, schrieb: Ein Beispiel mit gravierenden Folgen sind die Agrarsubventionen. Die USA und die EU subventionieren ihre Landwirtschaft mit etwa 1 Milliarde Dollar pro Tag. Würden die reichen Länder diese Eingriffe in den freien Markt abbauen, könnten die Entwicklungsländer ihre Agrarexporte um mehr als 20 Prozent und das Einkommen der ländlichen Bevölkerung um etwa 60 Milliarden Dollar pro Jahr erhöhen – ein Betrag, der größer ist als die gesamte Entwicklungshilfe der EU. Hinzu kommen Einfuhrbeschränkungen und andere Hürden, durch die die EU und die USA ihre Märkte gegen Importe aus Entwicklungsländern abschotten. Zugleich wird armen Nationen das Recht genommen, ihre Wirtschaft selbst zu gestalten. Die armen Länder müssen ihre Märkte für transnationale Konzerne öffnen, für die sie dann ein Reservoir billiger Arbeitskräfte und Rohmaterialien werden, die reichen Länder betreiben Protektionismus. … Tatsächlich zielt der Neoliberalismus gar nicht auf freien Märkte. Er zielt vielmehr auf eine radikale Umverteilung, und zwar von unten nach oben, von der öffentlichen in die private Hand und von Süd nach Nord.
Der gesetzliche Mindestlohn - weithin auch der übliche Lohn - beträgt 2000 DH, 186 €. Im Dienstleistungsbereich wurden 2003 mit 36,7 % der Erwerbstätigen 54 % des BIP erwirtschaftet; wichtig ist Tourismus mit etwa 10 % am BIP und (2013) zehn Millionen Touristen, 2008 waren es erst acht Millionen.

Sonntag, 31. Januar

Mein Ausflug nach Casablanca führt mich zunächst zum früheren Flugplatz; Antoine de Saint-Exupéry war hier 1926 regelmäßig als Pilot unterwegs. Tatsächlich gibt es Überreste, heute ist das Gelände mitten in der Stadt gelegen und Gebiet für Neubauten.
Als ich auch das hinter Zaun und Tor geschützte ehemalige Passagierterminal - heute Sitz der Royal Air Maroc - fotografieren will, sieht mich ein übers Gelände gehender Anzugsträger, eilt auf mich zu, erklärt das sei strictly forbidden und severe interdit, nimmt mir den Foto aus der Hand, schaut sich die früheren Aufnahmen an, entdeckt sie und meint, auch diese müsse ich löschen.

Die ehemalige Kathedrale Sacre Cœur, ein gewaltiger Bau am Rande eines großen Parks inmitten der Neustadt, später Moschee, heute Forum de la culture, ist geschlossen. Es gibt eine Reihe anderer Kirchen, die ich mir erspare.

Der Newsletter von Radio Vatikan meldet: In Marrakesch haben an diesem Mittwoch 250 muslimische Wissenschaftler eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Darin sprechen sie sich für eine islamische Gesetzgebung nach den Prinzipien der Bürgerschaft und unter Miteinbeziehung aller Gruppen aus. Die Erklärung wendet sich auch an die Bildungseinrichtungen mit der Bitte um eine mutige Revision der Lehrpläne und um eine Streichung aller Themen, die zu Aggression oder Extremismus aufrufen oder die zu Krieg und Chaos führen. Die verschiedenen religiösen Gruppen, so der Appell, sollten sich daran erinnern, dass sie schon seit Jahrhunderten im selben Land lebten, und deshalb jede Form der Verleumdung des anderen ablehnen. Die Wissenschaftler waren auf Einladung des marokkanischen Ministeriums für Islamische Angelegenheiten und des Forums für den Frieden in der muslimischen Gesellschaft in zusammengekommen.

Natürlich muss man es in Casablanca gesehen haben: Rick's Café - der Nachtclub und Emigranten-Treffpunkt von Humphrey Bogart aus dem besten Film der Welt - den es damals gar nicht wirklich gab, der aber an dieser Stelle zwischen Hafen und Eingang zur Medina zu denken ist. Tatsächlich wurde im Studio gedreht und das Café für 9200 $ als Kulisse gebaut.

Direkt neben Rick's Café ist diese Werkstatt - nein: dieses Atelier für Mechanik -, offenbar auf Zweiräder spezialisiert. Hauptgeschäftszweig des Inhabers scheint aber die Verwaltung der Parkplätze vor seinem Geschäft zu sein - zu erkennen an der gelben Schutzweste, die alle Parkwächter tragen. Die Parkplätze - auch die im Parkverbot - werden alle bewacht, das ist Job und Geldquelle für Tausende Marokkaner.

Der Gang durch die alte Medina ist nicht sehr eindrucksvoll.

Auch die alte Stadtbefestigung vor der Medina zum Hafen hin ist keine Attraktion …

… aber immerhin Ruhepol für Einheimische am Sonntag.
Es gibt hier ja nicht wirklich Sonntag. Die großen Büros und Fabriken haben geschlossen, aber kleine Händler offen, LKWs fahren. Auf der Baustelle neben meinem Campingplatz wurde auch am Samstag den ganzen Tag gearbeitet, nur jetzt am Sonntag ist eigentlich Pause, aber dennoch ist jemand am Abend - sehr lautstark - beim Abbau eines Kranes zu Gange.

Nocheinmal Rick's Café von der Rückseite, zum Hafen hin, an die Stadtmauer gebaut.
Treffend schreibt Ulrich Behrens auf der Webseite filmzentrale: Casablanca ist Symbol für einen Ort, der unabhängig vom konkreten Filmgeschehen und den zeitlichen Umständen existiert, und das macht einen Film zeitlos, der für viele in den Zeiten des Kriegs vielleicht vor allem ein Liebesfilm und ein antifaschistischer Propagandafilm war. Er umfasst das Gefühl des Wartens in einer Welt, in der sich der Schrecken, der Horror, die Verzweiflung, der Tod in einer sozialen Maschinerie konzentriert hat, die scheinbar unaufhaltsam alles in Trümmer legen wird. Ricks Café Américain ist insofern vielleicht eben nicht nur Fluchtpunkt, sondern auch Zeichen einer anderen Welt.
Übrigens, gelernt habe ich auf Wikipedia: Als Casablanca 1952 in die deutschen Kinos kam, enthielt der Film kaum noch Hinweise auf den Zweiten Weltkrieg. Alle Szenen mit Major Strasser und anderen Nazis waren herausgeschnitten worden. Auch die Szene, als die Deutschen Die Wacht am Rhein anstimmen und von französischen Patrioten mit der Marseillaise niedergesungen werden, fehlte. Victor László wurde zu Victor Larsen, einem norwegischen Atomphysiker, der die rätselhaften Delta-Strahlen entdeckt hat. Captain Renault wurde in Monsieur Laporte umbenannt und war nun ein Mitglied der Interpol. Erst 1975 strahlte die ARD die ungekürzte und neu synchronisierte Fassung aus, die bis heute bekannt ist.

Das moderne Wahrzeichen der Stadt ist die Moschee Hassan II., benannt nach ihrem Bauherrn, König Hassan II., von 1986 bis 1993, nach der in Mekka die zweitgrößte Moschee der Welt, für 1.500.000.000 € - bezahlt aus freiwilligen Spenden der Bürger Marokkos - direkt auf die Klippen des Meeres gebaut, mit Platz für 25.000 Menschen innen und 75.000 auf dem Vorplatz, 200 m hohem Minarett und eigener Tiefgarage.

Die das Gelände umgebenden einfachen Häuser sind inzwischen fast alle abgerissen und durch moderne ersetzt.

Hassan II. wollte mit dem Moscheebau natürlich sich selbst ein Denkmal setzen, aber auch die Fundamentalisten einbinden, die bis heute ihre Hochburg in Casablanca haben; das Wirtschaftszentrum des Landes, 3,7 Mio Einwohner, hat auch die meisten wirtschaftlich Abgehängten, ist damit Brutstätte der Verzweiflung und also des Terrorismus.
Im Reiseführer wird deshalb vom Gang durch die Medina gewarnt - ich hatte keinerlei Probleme.

Mir fällt auf: die Herkules- Grotten bei Tanger waren vergangenen Sonntag besser besucht …

Auf dem Rückweg, kurz vor meinem Campingplatz: man müsste es sich überlegen: eine Neubau-Wohnung, bestes Klima, fußläufig zum Strand, 64 m² für 44.640 €, dazu ewige Jugend …
Die Preise beim Einkauf im Supermarkt gestern - Schweinswurst! - hatten durchaus unser Niveau.

Wenige Meter daneben: die Alltagswirklichkeit der meisten Marokkaner - und leckere frische Erdbeeren.

Man muss zur täglichen Versorgung den Campingplatz gar nicht verlassen: morgens gibt es frisches Brot - das ist preiswert: 14 Cent, und gut, - mehrere Fischhänder kommen jeden Tag - ich habe mich aber noch nicht getraut: Waschen, Schuppen, Ausnehmen: keine Ahnung davon - und abends der Obstmann.
Ich fühle mich wohl hier, werde noch einige Tage bleiben.

Der Track:
Mohammedia

geschrieben am 28. und 31. Januar 2016


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