Welt bereisen Das Reiseblog des Ökumenischen Heiligenlexikons

Zurück nach Europa

   J. Schäfer          

Montag, 15. Juli

Von Dorylaeum beim heutigen Eskişehir ist nur ein eingezäunter Hügel mit spärlichsten Ausgrabungen übrig.


Ich verlasse endgültig das anatolische Bergland und komme nach Nicäa, das heutige Íznik, einem für die Entwicklung der Lehren des Christentums entscheidenden Ort. Hier fand 325 das erste ökumenische Konzil der christlichen Kirche statt, das mit dem Nicänischen Glaubensbekenntnis definierte, dass Jesus Christus als wesensgleich mit Gott anzusehen sei. Teilnehmer waren neben vielen anderen Leontius von Cäsarea und Potamon von Herakleopolis Magna. Auch das siebte ökumenische Konzil, das letzte Konzil, das auch von der Ostkirche anerkannt wird, fand 787 in dieser Kirche, der Hagia Sophia, statt; dabei wurde entschieden, dass die Verehrung von Ikonen erlaubt sei.

Die Kirche in der Stadtmitte, in der das Konzil stattfand, blieb in ihren Mauern im Wesentlichen erhalten, sie wurde im 11. Jahrhundert nach mehreren Erdbeben als Kirche erneuert; 1331, nach der Eroberung durch die Osmanen, wurde sie in eine Moschee umgewandelt, im 16. Jahrhundert mit einem Minarett ergänzt; 1920, nach der Besetzung der Stadt durch die Griechen, wurde das Gebäude wieder Kirche, nach dem Sieg der Türken lag es brach; 1936 fanden Ausgrabungen statt, das Bauwerk wurde auf Initiative von Kemal Atatürk zum Museum; der stellvertretende türkische Ministerpräsident setzte nach der Renovierung 2011 gegen den Widerstand der Stadtverwaltung die Wiedereröffnung als Moschee durch. Auch als Moschee behielt der Ort seinen Namen Hagia Sophia.

Ein alter Sarg. (Im Hintergrund das Büro der Regierungspartei AKP; die Parteien, allen voran natürlich die AKP, haben ihre Büros und oft auch Versammlungslokale in allen größeren Orten.)

Neben der Kirche / Moschee Reste einer weiteren, kleineren Kirche mit einem einfachen Mosaikfragment.

Der Innenraum, dessen Mittelteil als Moschee dient; als ich schon am Eingang meine Schuhe ausgezogen hatte, wurde ich gebeten, sie weder anzuziehen, der Bau sei Museum, nur der Mittelteil Moschee.

Auch innen gibt es am Eingang Reste der Mosaiken.

bescheidene Fresken an einem Grab im Seitenschiff

die Sitzreihen für Bischöfe in der Apsis

ein Grab

Ebenfalls mitten in der Stadt: die Reste des Amphitheaters, gebaut unter Kaiser Trajan um 100.
Nicäa wurde 1077 von den Seldschuken erobert, kam aber 1097 nach der Belagerung durch die Kreuzritter im 1. Kreuzzug an Byzanz zurück. 1204, nach der Eroberung von Konstantinopel beim 4. Kreuzzug, wurde Nicäa Hauptstadt und Sitz des Patriarchen bis zur Rückeroberung Konstantinopels 1261. In dieser Zeit wirkte Josef I. Galesiotes hier am Kaiserhof und Sabas I. von Serbien erreichte die Einrichtung eines Erzbistums und die Autokephalität für Serbien. 1331 fiel die Stadt an das Osmanische Reich.

Gut erhalten sind große Teile der Stadtmauer und der -tore ...

... höchst spärlich dagegen die Reste der Kirche der Entschlafung (Mariä).

Der schöne alte Hamam stammt aus dem 15. Jahrhundert.

Im Ramadan muss auch der Dolmuş-Fahrer seinen Mittagsschlaf machen können ...

Ich aber muss schnell weiter: nach Drepanon, dem heutigen Hersek, wo die Gastwirtstochter (deren Aufgabe wohl war, die Männer zu beglücken) und spätere Mutter von Kaiser Konstantin, Helena geboren wurde. Ohne ihren tiefen Glauben, ihre große Wohltätigkeit zugunsten der Kirche und ihren Einfluss auf den Sohn hätte es wahrscheinlich keine Konstantinische Wende und nicht die daraus folgende Entwicklung des Christentums gegeben.
Konstantin benannte die Stadt 318 zu Ehren seiner Mutter um in Helenopolis, entfaltete rege Bautätigkeit, u. a. mit einer Lucia geweihten Kirche, und war oft selbst dort, auch wegen der nahen Thermalquellen. Später wurde die Stadt Bischofssitz, wurde aber damals schon verspottet als Eleinoupolis, wüste Stadt.
In Hereke stehen noch diese schöne Moschee aus dem 14. Jahrhundert und knapp 10 Häuser, der Ort wird derzeit zum großen Werft- und Hafenplatz ausgebaut.

Ich fahre weiter nach Nikomedia, dem heutigen Ízmit. Viele Erdbeben - das jüngste 1999 mit 18.000 Toten, fast 10% der Bewohner - sorgten dafür, dass es keine historische Bausubstanz mehr gibt, abgesehen von diesem bescheidenen Relikt der Kirche der Entschlafung (Mariä).
Für das Christentum war Nikomedia eine wichtige Stadt: Barbara und viele andere starben hier als Märtyrer; Kaiser Diokletian errichtete hier seine Residenz und organisierte die größte Christenverfolgung der Geschichte; aber 311 wurde ebenfalls in Nikomedia das Toleranzedikt veröffentlicht, welches das Christentum zur erlaubten Religion machte und die die Konstantinische Wende markiert.

Die Yenı Cuma Cami, die neue Freitags-Moschee, stammt aus dem 15. Jahrhundert.
Izmit ist eine sehr lebendige, moderne Stadt; von den Schäden des verheerenden Erdbebens ist nichts mehr zu sehen - leider aber auch keine Zeugnisse der Vergangenheit.

Die letzte Station auf asiatischem Boden ist die frühere Villa Ankyron beim heutigen Ortsteil Agah Ateş in Hereke am Nordrand des Marmara-Meeres, an die heute dieses nachgebaute Amphitheater erinnert. Hier starb Kaiser Konstantin auf dem Weg von Drepanon nach Konstantinopel, wohin er - den nahen Tod spürend - reisen wollte; hier wurde er auf dem Totenbett getauft - eine eigentlich für die Kirchen nicht gültige Taufe durch den arianischen Bischof Eusebius von Nikomedia - und hier machte er der Kirche angeblich umfangreiche Schenkungen, vor allem große Gebiete um Rom, auf die sich der Vatikan noch im 20. Jahrhundert berief.

Es geht gegen 19 Uhr, als ich beschließe, noch heute den Schritt nach Europa zu machen - besser: den Wahnsinn der Fahrt auf der Autobahn durch Ístanbul hinter mich zu bringen.
Ich hatte Ende der letzten Woche doch eine gewisse Sehnsucht nach dem ordentlichen Mitteleuropa entwickelt: nicht ständig die Straße nach Löchern, die Straßenränder nach abgebrochenen Stellen (die des öfteren verhängnisvoll in den Abgrund führen würden), die Gehwege nach Stolperfallen scannen zu müssen; nicht sich ernähren, sondern mit Appetit essen: ein groooßes Wiener Schnitzel mit Pommes, die frites sind (und nicht, was es hier neben Reis auch gibt, in altem Fett matschig gemachte Kartoffelscheiben), dazu Salat mit Essig und Öl - und dann noch einen Käsekuchen, nicht zu süß; erträgliche Temperaturen (obwohl die in den letzten Tagen auch hier erträglicher wurden); und nicht immer jeder Blick getrübt von der Erkenntnis selbstgemacht, sondern: Anstriche mit Abfassungen, Türen die eingefasst sind, Fliesen ohne klaffende und offene Fugen ... Mitteleuropäischer Snobismus eben, Wohlstands-Deformationen, Bequemlichkeitsanfälle, die Arroganz des Reichtums, die das Wesentlich nicht würdigt.
Und, ach ja, noch eine Sehnsucht: nach wohlklingenden Kirchenglocken! (In Sillenbuch, so laß ich, haben sich jetzt die protestierenden Nachbarn ungeachtet aller längst höchstrichterlich in Deutschland entschiedenen Grundsätze gegen das Läuten der Kirchenglocken durchgesetzt - für Sillenbucher gelten eben eigen Rechte! - man sollte sie wegen Blödheit wegsperren.)
Und dann fuhr ich also in die Staus, in den Wahnsinn dieses Verkehrs (wo 30 cm Platz sind, wird der ausgenützt, auch bei 120 km/h auf der Autobahn), schließlich über die Bosporus-Brücke und damit nach Europa - und es umfing mich je länger je mehr tiefe Wehmut und Abschiedsschmerz, gegen den alle mitteleuropäischen Verlockungen bedeutungslos wurden!
In Silivri hatte ich im Internet einen Campingplatz gesehen, auf dem ich die letzten Tage in der Türkei verbringen wollte, aber es wurde Dank der vielen Staus dann doch zu spät, so verbrachte ich die Nacht an einer Autobahn-Raststätte kurz davor. Mit einem leckeren Abendessen: Köfte, (wie immer klebrigem und kaltem) Reis, Brot, Salat ohne Essig und Öl - was braucht der Mensch denn mehr? Und vor dem Einschlafen natürlich ein letztes Mal für heute der Muezzin aus dem Dorf nebenan.

Dienstag, 16. Juli

Selymbria, heute Silivri, ist ein schöne Küstenstadt, in der Bären sich nützlich machen ...

... und Männer sowieso.

Auch hier hat die Geschichte die Zeugnisse der Vergangenheit (eine byzantinische Kirche gab es noch bis zum 1. Weltkrieg) vernichtet. Das wohl einzige ältere Gebäude ist heute - na? - Hochzeits-Salon und Ausstellungsraum.
Der griechische Metropolit Nektarios von der Pentapolis wurde noch 1846 hier geboren. Dann wurde die osmanische Stadt von russischen Truppen besetzt, wieder osmanisch, ab 1912 bulgarisch, wieder osmanisch, 1920 griechisch, dann für ganze acht Tage italienisch und nun seit 1924 türkisch.

Am Nachmittag erreiche ich den Campingplatz - Semizkum Mocamp, the perfect family seaside campground - wenn die Plätze nur annährend so gut wären wie die Internet-Präsentationen! Zum ersten Mal ein gefüllter Platz, türkische Urlauber zuhauf, wohl aus Ístanbul. Sie unterscheiden sich in Nichts von mitteleuropäischen Urlaubern: nicht im Verhalten (Ramadan scheint es nicht zu geben), nicht in ihrer Kleidung (selbstverständlich Bikinis). Natürlich bin ich der einzige nicht-Türke - auf der ganzen Reise habe ich mit 2 oder 3 Ausnahmen kein nicht-türkisches Auto gesehen, auf den Campingplätzen außer dem Holländer, einem französischen Ehepaar (3 Kinder, kein Auto, ein [!] Zweimann-Zelt, die Eltern schliefen im Freien - alle Achtung!) in Bergama und einem jungen Schweizer Paar sowie einigen Rentnerpaaren in Göreme keine Reisenden getroffen. Die Pauschalreisen sind ein Fluch: einfliegen, nichts vom Land mitbekommen, abfliegen; mit Reisen hat das nichts zu tun - aber offenbar reist überhaupt keiner mehr - in Deutschland gibt es schon seit vier Wochen Ferien! (In der Türkei auch: Schulferien von Mitte Juni bis Mitte September! Dafür nur noch weitere 14 Tage Ende Januar.)

Mittwoch, 17. Juli und Donnerstag, 18. Juli

Jetzt bin ich genau 10 Wochen unterwegs - das hatte ich zuvor als Reisedauer (mit Ziel Israel!) grob veranschlagt. Ich war bislang 15.616 km unterwegs, davon 13.500 km im Land selbst - am Tag im Durchschnitt 200 km (ohne die Anreise); dabei habe ich rund 150 Orte besucht; pro Tag habe ich für Essen (und Trinken!) 8,16 €, für Camping (zu blöd, dass meine Dusche nicht funktioniert, das wäre weitgehend unnötig) 6,25 € und für Eintrittsgelder 2,38 € ausgegeben. Ich habe gut 100 türkische Wörter gelernt, damit kann man den Alltag bewältigen. Mein Einbau hat alle Rüttelstrecken prächtig überstanden und sich auch sonst als höchst tauglich erwiesen, auch die Elektrik funktioniert prima, die Solaranlage macht mich autark. Ich habe ausnahmslos anständige, hilfsbereite, meist freundliche, oft interessierte - auch viele neugierige - Menschen kennengelernt.

Es gibt nicht die Türkei; man muss sich klar machen: die Entfernung von Edirne nach Başkale - dem südöstlichsten Punkt, an dem ich war -, ist größer als die von Stuttgart nach Edirne. Im Osten herrschen die traditionsverhafteten, aber religiös liberalen Kurden vor. In den Dörfern Zentralanatoliens gibt es oft archaische Strukturen, hier sind Frauen ohne Kopftuch schier unvorstellbar. An der Süd- und Westküste herrscht hingegen große Offenheit, ein buntes Gemisch der Kleiderordnung und der Gebräuche. Im europäischen Teil des Landes, um Ístanbul, Ízmit oder Bursa gelten weithin mitteleuropäische Bräuche und Kleiderordnung. Hier sprechen viele Leute auch - zumindest leidlich - Englisch. Das hängt mit dem Schulsystem zusammen: jedes Kind lernte in der Sekundarstufe I eine Fremdsprache, das war - besonders in den traditionsverhafteten Gebieten - wohl zumeist Arabisch zum Koran-Lesen; seit 2011 ist nun auch die Sekundarstufe II und eine zweite Fremdsprache Pflicht, so bekommt wohl auch Englisch eine Chance, unverzichtbar für ein Land in der Weltwirtschaft. Auffällig ist, wie schlecht das Englisch sehr oft auch auf den offiziellen Schildern ist, die an historischen Stätten zur Erläuterung - immer mindestens zweisprachig - aufgestellt sind.

Immer wieder wurde mir deutlich, wie sehr das Land sich nach Europa ausrichten wollte. Einfaches Beispiel: die Autonummern-Schilder tragen seit langem das europäische Design mit dem blauen Balken und der Länderkennung - nur die 12 Sterne fehlen. Nach Jahren enttäuschter Hoffnungen wendet sich die Regierung offenbar von diesem Ziel ab und orientiert sich in den arabischen Raum, wo die Türkei wegen ihrer wirtschaftlichen Erfolge bewundert wird und als Vorbild angesehen. Das Lechzen nach Anerkennung ist durchgängig spürbar: Türkiye good? Klar doch! Güneş (Sonne, Fingerzeig nach oben) good? Selbstverständlich! Kebab good? Natürlich! () Sigara (Zigaretten) good? Aber ja! (Marlboro ist ein internationaler Konzern und die türkischen Marlboro sind so wenig türkisch wie die deutschen deutsch.) Aber Europa hat die Chance wohl verspielt, mit der Türkei einen Brückenkopf in den Orient zu bekommen. Inzwischen gibt es - selten - Nummernschilder mit rotem Balken und Halbmond an der Stelle der Sterne. Die Revolution, die mit kleinen Protesten ja anhält, dreht sich wohl genau um diese Frage: moderne, gebildete Schichten wollen nach Europa und bekämpfen Erdoğan und seinen pro-arabischen Kurs.

Die Reise- und Sicherheitshinweise des deutschen Außenministeriums zur Türkei lesen sich dennoch wie Berichte aus einem anderen Land: Reisende werden weiter gebeten, sich von Demonstrationen und Menschenansammlungen fernzuhalten und Vorsicht walten zu lassen. ... Angesichts von Anschlägen militanter Gruppierungen in der Vergangenheit auch gegen nicht-militärische Ziele muss in allen Teilen der Türkei weiterhin grundsätzlich von einer terroristischen Gefährdung ausgegangen werden. ... In einer Erklärung der PKK-nahen Organisation ... heißt es, dass auch auf Zivilisten und Touristen keine Rücksicht genommen werde. Bei Reisen in den Südosten des Landes ist mit starken Behinderungen aufgrund von Straßenkontrollen und Militärbewegungen zu rechnen. Es wird ... weiterhin bei Reisen in den Südosten des Landes zu größter Vorsicht geraten. Von Überlandfahrten sollte dort nach Möglichkeit abgesehen werden.
Ich wurde gerade zweimal von der Jandarma angehalten und höchst freundlich behandelt. Mehrfach landete ich bei einer Suche an Kaserneneinfahrten, die haben sich regelmäßig über die Abwechslung gefreut - konnten als Ortsfremde mir aber auch nie helfen. Als ich einmal einen vor einer Kaserne ausgestellten alten Düsenjet fotografieren wollte, kam der Wachhabende mit Verbot - und sogleich ein Offizier hinterher, um sehr freundlich und entschuldigend um Verständnis zu bitten. Die vielen Polizeikontrollen an den Straßen sind völlig unproblematisch, weil sie von weither schon sichtbar sind; ich wurde nie angehalten. Wie man mit der Polizei umgeht, habe ich gelernt, als ich in Beyşehir mit den Ford-Leuten mitfahren durfte: vierspurige Ausfallstraße aus der Stadt - natürlich gelten innerorts 50 km/h, dazu stehen noch einige solche Schilder am Straßenrand; auf der linken Spur fährt vor uns die Polizei mit 80 km/h, aber man fährt auch durch die Ortschaften grundsätzlich mit 100 km/h; also hupt der Ford-Mann; weil keine Reaktion erfolgt auch ein zweites und drittes Mal; nun wechselt die Polizei auf die rechte Spur und kann endlich überholt werden.
Die Türkei ist ein sehr viel sichereres Reiseland als Deutschland - jedenfalls wenn man die eine einzige geltende Regel im Straßenverkehr (und als Fußgänger) beachtet: der Schnellere / Stärkere hat Vorfahrt - und die nimmt er sich.

Die Tracks:
Silivri
Silivri2

geschrieben am 17. / 18. Juli 2013


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